Rosanna Dematté, 2023
Anna-Maria Bogner
Ergo
Anna-Maria Bogner setzt sich in ihrer Arbeit mit den Grundlagen der Raum-Wahrnehmung auseinander. Sie fokussiert auf die Tatsache, dass der Mensch aus rationalen Gründen den an sich unendlichen Raum anhand von kulturell gewachsenen Bedingungen eingrenzt. Erfolgreiche Raumbilder wie der zentralperspektivische Raum, der seit der Renaissance im Westen allgegenwärtig ist, prägen die westlichen Raumvorstellungen. Die Idee eines einsam betrachtenden Ichs steht im Zentrum dieser Raumauffassung, während sich in anderen Kulturen das Individuum stärker in einer Relation zu anderen versteht. Auch Sprache und raumbezogene Begriffe sind wichtige Parameter der rationalen Raumkonstituierung. Die künstlerische Arbeit hingegen kann sich an die Erforschung noch unfassbarer Gebiete der Realität jenseits der Grenzen der Sprache und der Vernunft wagen. Anna-Maria Bogners Arbeit behauptet Räume als Phänomene, die im Sinne der Kommunikation unter Menschen auch immer soziale Phänomene sind. Verinnerlichte Räume aus sozialen und kulturellen Konventionen überlagern und organisieren den physischen Raum, grenzen ihn ein und schließen auch immer etwas aus. Bogner untersucht das komplexe Phänomen Raum als Zusammenspiel zwischen Körper, Geist, Ratio sowie geistigen, sinnlichen und sozialen Handlungen des Menschen.
PROJEKTIONEN DES KÖRPERS
Zu dieser bewussten Analyse gelangt Bogner nach einer langen Introspektion, die mit ihrer ersten künstlerischen Ausbildung beginnt. Von 1999 bis 2003 arbeitet sie an der Fachschule für Bildhauerei in Innsbruck unter anderem mit Stein, behandelt erste Fragestellungen rund um den Körper und seine Präsenz im Raum. Das Thema verfolgt sie weiter in den vier verschiedenen Meisterklassen, die sie an der Wiener Akademie der bildenden Künste besucht. Von der Klasse für performative Kunst und Bildhauerei von Monica Bonvicini wechselt sie nach einem Jahr zu Franz Graf, der bis 2006 an der Akademie unterrichtete, später dann zu Elke Krystufek und Hans Scheirl (aktuell Ashley Hans Scheirl). Alle vier Künstler*innen, die sie an der Akademie begleiten, erforschen intensiv die Rolle des Körpers mit unterschiedlichen Fokussierungen.
Um 2005 wird für Bogner das Bedürfnis deutlich, sich von der Priorität des Körpers zu befreien, der ihre Arbeit bis dahin bestimmt hat. Sie reagiert auf den Drang einer psychischen Flucht aus einem Körper, den sie nun als ambivalentes „Haus“ empfindet, ein Haus, das viel zu wenig zulässt. Videostills und Fotografien von 2005 und 2007 dokumentieren zwei Momente ihrer konzentrierten Erforschung der Grenzen des Körpers im Raum, welche in zwei privaten Performances erfolgt. Sie richtet sich auf die Eigenschaften des Körpers als Schwelle zwischen dem physischen und dem geistigen Raum. Der Körper der Künstlerin repräsentiert in den Performances alle möglichen Körper und die gewählten Räume – das Studio der Künstlerin, eine ehemalige Badeanlage etc. – alle möglichen Räume. Die Neutralität der Settings erinnert an die Bühnen des glorreichen elisabethanischen Theaters, wie sie von Peter Brook in „The Empty Space“ (Der leere Raum), das ich im Arbeitszimmer der Künstlerin finde, beschrieben werden: „The Elizabethan stage […] was a neutral open platform – just a place with some doors — and so it enabled the dramatist effortlessly to whip the spectator through an unlimited succession of illusions, covering, if he chose, the entire physical world.“1 Anna-Maria Bogners jüngere Rauminterventionen lassen sich durch ihre Neutralität, die Anspielungen auf die Grenzenlosigkeit und auch durch ihr Wesen als Handlungsräume mit diesen Bühnen vergleichen. Auch Bogner gestaltet mit jeder Rauminstallation die Plattform für ein Experiment, das die „gesamte physische Welt“ betrifft.
Bogners letzte bildhauerische Konzepte um 2006 erkunden den Verzicht auf den Körper und die Suche seiner Überwindung. Sie lotet seine Durchlässigkeit mit Figuren aus Draht aus und entwickelt schließlich im März 2006 eine ganz andere Arbeit, die Installation „KOPFFAELLTABRUECKENBRUCHAUFSCHLAG“. Diese auf die Wand geschriebenen Wörter schreien den Zustand eines Körpers, der zerbricht und zerfällt. Die Schrift ist unerreichbar, von breiten schwarzen Treibriemen versperrt. Von der anderen Seite wird die Sicht durch eine Folie versperrt. Sowohl das körperliche als auch das optische Eindringen in den von der Folie unterbrochenen Gang wird verhindert. Bogner notiert in diesen Wochen in ihrem Notizbuch: „Eine Einschränkung für Raum, Körper + Zeit. […] – Keine Bewegungsfreiheit – Kein Freiraum“. Die Inszenierung forciert das Empfinden der Grenzen des fühlenden, lesenden, sehenden Körpers und seine Perspektivenlosigkeit, indem sie ihm die Projektion auf ein Gegenüber versperrt.
Ihre Diplomarbeit „der zu-gedachte raum“ von 2007 ist eine ohne Schuhe zu betretende Installation in Form eines schmalen, weißen Raumes, der 9,9 m lang und 70 cm breit ist. Der Eingang des Raumes ist 2 m, der Ausgang 1,60 m hoch. Das Ende ist zuerst nicht zu sehen, erst dann entdeckt man die Klappe, die das Austreten erlaubt. Auch hier ist die geistige Projektion der Besucherin bzw. des Besuchers auf den sich verjüngenden Raum ein von der Künstlerin untersuchtes Phänomen. Wo befindet sich der Körper und wo das Bewusstsein vor dem „zu-gedachten“ Raum? Ist die geistige Projektion hin zum dunklen Ende des Tunnels dominanter als das Körperbewusstsein zu Beginn?
RAHMENBEDINGUNGEN DES GEISTES
2008 ist Bogner an einer Gruppenausstellung im ehemaligen Wiener Wassergüteamt, einem leeren Gebäude, das kurz vor seinem Abriss steht, beteiligt. Vor einem Fenster eines der Räume spannt sie schwarze Schläuche mit starken Spannschlössern in einer treppenartigen Konstruktion. Die Arbeit irritiert in seinem Dasein als Entwurf, der gleichzeitig eine architektonische Form im Raum ist. In ihrem Notizbuch schreibt sie: „Ich fülle den Raum mit Konstruktionen, die niemals zu Ende gedacht werden können, da die Realität für jeden Versuch der Fertigstellung eine zeitliche Beschränkung vorgesehen hat. Raum, der sich nicht neu erfinden lässt, da er bereits existiert. […] Was bleibt ist eine Vorstellung von Raum, fragmenthaft angedeutet, durch die treppenartige Konstruktion, die sich durch den Raum spannt.“
Sie untersucht mit dieser Arbeit die Wirkung von einer nach architektonischen Standards gebauten Treppe, die nicht bestiegen werden kann, ausgehend von folgenden Fragestellungen, die sie schriftlich aufnimmt: „Wohin führen uns angedeutete Wege? Wohin führen uns unsere psychischen Konstruktionen in Bezug auf reale Situationen?“
Die Koordinaten Raum und Zeit, welche im Wassergüteamt eine große Rolle spielen, werden mit dem Körper als die engsten Kreise des Geistes identifiziert. Raum definiert Bogner als „eine sich entwickelnde Konstante“ und Zeit als Konstante, die den Körper als Entität mit Masse definiert. Sie spürt nach wie vor: „Der Geist will aus seinem Körper ausbrechen.“ Den Körper zeichnet sie im April 2008 als rechteckige Membrane zwischen der schraffierten Konsistenz von Raum und der punktierten Textur des Geistes, daneben die Zeit, die als Bedingung der Bewegung und der Veränderung diesem Dreierverhältnis immanent ist.
Zu den wichtigsten Grenzen des Geistes, so auch einer Erweiterung des Raumbegriffes, kristallisiert sich in Bogners Notizbuch die Vernunft heraus: „Ratio ist die Grenze unserer Unendlichkeit, denn bevor ein Denkprozess sich zu einer Entscheidung formt, lenkt die Vernunft ein. Geprägt ist diese wiederum von unserer Moral + Wertvorstellung hinsichtlich unserer Sozialisation. Woher kommen wir? Was begründet unsere jeweiligen Realitäten? Inwiefern sind wir fähig, unserer Vernunft zu widersagen? Denn auch Unvernunft ist eine Grenze der Vernunft/Ratio selbst. Wie also ist es möglich, uns selbst zu widersagen? Ist ein Raum ohne Grenzen überhaupt möglich zu denken – wenn unsere Vorstellung von Wahrnehmung sich immer nur auf unsere bereits definierte Vernunft stützt? Wir sind also die stete Wiederholung unserer Erkenntnis.“
Die Vernunft zwingt den zeitlosen Geist zu einer Eingrenzung des Unendlichen und zu einer Ordnung des Erlebten, um dem Körper in seinen praktischen Anliegen zu dienen. Wie würde sich dann ein Raum anfühlen, in dem der Körper mit seiner Masse und seinen Sinnen unpraktisch und sinnlos, ja zu viel wird? 2010 baut die Künstlerin im Projektraum des Kunstvereins das weisse haus in Wien mit der Arbeit „Zwischenraum“ eine Konstruktion, die sich im Laufe von 3 Monaten verändert. Sie startet mit zwei hellen Gerüsten aus Holz, zwei Quadern, einem an der Decke und einem am Boden, die in der Anfangsphase der Installation keine große optische Grenze darstellen. Die Holzkonstruktionen werden dann in der zweiten und in der dritten Phase mit einem schwarzen Stoff bespannt. In der vierten Phase der Arbeit wird der Raum in Kooperation mit der Künstlerin Christina Boula komplett abgedunkelt, der restliche Umraum negiert. Der Körper, der den Raum betritt, rückt an den Rand des Raumes, der physisch und optisch nicht mehr zugänglich ist. Im schwarzen Raum bekommt der Körper eine aufdringliche Präsenz und der Mensch reagiert mit Überkompensation – den übersteigerten Ausgleich einer empfundenen Minderwertigkeit, wie diese in der Psychologie Alfred Adlers definiert wird. In seinem normalen Handeln im Raum beeinträchtigt, stößt der Körper an Grenzen, die er versuchen muss, zu kompensieren. Es ist nichts zu sehen, das man Außenwelt nennen könnte. Die Künstlerin notiert dazu: „Man wirft uns zurück auf uns selbst. Da wir an einer Grenze angekommen sind, die nur unser Verstand im Stande ist, zu überwinden, jedoch unser Körper gefesselt an seine Dimension zurückbleibt. Mensch bräuchte ein zusätzliches Modul, um diese (seine sich selbst konstruierte) Grenze zu überwinden. Dieses Modul existiert bereits in seinem Verstand.“
Die Vernunft zwingt den Geist zu einer Eingrenzung des Unendlichen und zu einer Organisation des Erlebten, um dem Körper in seinen praktischen Anliegen zu dienen und um Wissen zu erwerben. Die Philosophie hat seit der Antike zahlreiche Theorien zu diesem Prozess geliefert. Interessant für eine Annäherung an die Arbeit von Anna-Maria Bogner werden die Beiträge der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eine disziplinenübergreifende Richtung suchen, u. a. die von Ernst von Glasersfeld. Es ist wenig überraschend, die Einführung zu den Methoden seines Radikalen Konstruktivismus in der Bibliothek der Künstlerin zu finden. Glasersfeld entwickelte ein philosophisches Instrument, um Erkenntnis als Tätigkeit zu begreifen, das wie folgt funktioniert: „Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, daß alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen von Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. Was wir aus unserer Erfahrung machen, das allein bildet die Welt, in der wir bewußt leben.“2 Mit anderen Worten ist es für den Menschen schwierig, sich und die eigenen Konstrukte von außen zu betrachten.
Das Werk „Eidolon“ von 2011 präsentiert das verharmloste Gegenbild einer zu dominanten Ich-Spiegelung und ist Ausdruck der Trugbilder, welche das Ich uns unterbreitet. Mehrere Objekte dieser Art entstehen in den darauffolgenden Jahren und gehören heute zum OEuvre der Künstlerin. Sie sind eigentlich Zeichnungen in räumlicher Form. Ihre Präsenz als Plastiken wird jedoch durch ihr lineares Dasein wieder negiert. Mehrere Zeichnungen dieser Zeit behandeln einen ähnlichen Schwerpunkt: die Hinterfragung der Zentralität des Ichs und der Zentralperspektive für die Raumkonstruktion.
Zum „Ich“-Thema entwickelt die Künstlerin im niederländischen Stichting IK im Rahmen des Projekts „RÄUMLICH “ eine Installation in einem der IK-Pavillons. Bogner realisiert eine über 11,7 m breite und 3,6 m hohe Zeichnung, die sie über die ganze lange Wand des Pavillons montiert. Sie überspitzt und vermehrt darin die Linien, die unsere Auffassung vom Raum prägen. Die Linien deuten auf mehrere „Ik“ (Niederländisch für „Ich“) hin, die sich im Raum bewegen und zusammen den Raum erweitern können. Kurator Peter Lodermeyer beschreibt in der Publikation zum Projekt die Wirkung der ortsspezifischen Arbeit: „Im Abgleich zwischen Zeichnung und vorgefundenem Raum wird der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Letztendlich kommt er nicht darum herum, sich seiner eigenen Wahrnehmung des Raums bewusst zu werden. Wo stehe ich? Was ist mein IK?“3
RAUM ALS KOMMUNIKATIONSSYSTEM
Bereits gegen Ende ihrer akademischen Ausbildung wendet sich Bogners Interesse hin zu einem komplexeren Körper eines Ichs, das sich in Bewegung und im Austausch versteht und nicht nur eine Perspektive haben kann. Sie liest das Werk „Raumsoziologie“ von Martina Löw, das 2001 erschienen ist und zu den wichtigsten und umfassendsten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Raum und den Raumtheorien zählt, die den sogenannten „Spacial Turn“ in den Sozial- und Geisteswissenschaften markieren. „Raumsoziologie“ klärt über die Meilensteine der Philosophie und der Soziologie, der Politik und der Stadtplanung, der Geschlechter- und der Klassenforschung und über ihre Bedeutung für die Raumkonstitution auf. Martina Löw bespricht zum Beispiel die Arbeit von Pierre Bourdieu, der in den 1980er-Jahren den Begriff „sozialer Raum“ definiert hat. Das Individuum bewohne nach Bourdieu entsprechend seinem ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapital einen gewissen sozialen Raum. Anna-Maria Bogner untersucht Löws Buch mehrmals, notiert, unterstreicht, unter vielen anderen folgende Stelle, in der es um die „Organisation des Nebeneinanders“ in den 1970er-Jahren geht: „Die Straßen werden dem Autoverkehr vorbehalten. Man kauft in Supermärkten am Ortsrand und nicht in ‚Tante-Emma-Läden‘. Aus Schulen werden Schulzentren; Freiflächen werden funktionsgebundene Parkplätze, Spielplätze etc. Monofunktionale Wohnsiedlungen entstehen, in die vor allem junge Familien mit kleinen Kindern ziehen. Von allen Großstadtkindern leben 1972 vier Fünftel in den Außenbezirken der jeweiligen Stadt.“4 Martina Löw bietet der Künstlerin die theoretische Basis für eine immer stärker werdende Intuition, bei der Raum nicht körperlich und nicht als Projektion eines einsamen „Ichs“, sondern als Phänomen innerhalb von Kommunikationssystemen erfasst werden kann.
Die Arbeit „ADAPTATION“ entsteht im Frühjahr 2013 im Rahmen einer Residency der Künstlerin in Los Angeles und ist die erste Installation mit dünnen elastischen Bändern. Sie werden, so wie ihre Zeichnungen davor, als Gegenprogramm zur Vorstellung des Raumes als Container eingesetzt. Das traditionelle, boxartige Raumbild erscheint der Künstlerin in Los Angeles ganz eindeutig in all seinen Grenzen und Widersprüchen. In Kalifornien lösen sich Raum und Stadt in einem Kontinuum hin zur weiten Wüste auf. Hier stehen die (sozialen) Räume der unterschiedlichen und mehr oder weniger geschlossenen Communities im Vordergrund. Bogners elastische Linien, gespannt im perfekten Gleichgewicht, machen etwas sichtbar: Nicht der Container ist wichtig, sondern die Stabilität der Beziehungen.
Die Vorstellung, dass jeder Mensch die eigenen Räume mitnimmt und mit anderen Menschen gemeinsame Räume bildet, so auch die Überzeugung, dass das „Ich“ nie allein ist, finden sich als Leitmotive im Werk und in den Gedanken der Künstlerin. Was sich in Los Angeles in „ADAPTATION“ manifestiert, war schon fünf Jahre davor in den oben abgebildeten Notizen der Künstlerin vom 11. April 2008 als Vorahnung spürbar: „Jeder Körper besitzt einen Raum (und umgekehrt). + ein Umfeld das sich aus seiner eigenen Hülle/Masse weiterdenken lässt. Würden sich alle Körper, die es gibt, unendlich weit ausdehnen, würden sie zu einer ‚unendlichen‘ Masse verschmelzen. Denn: Kein Körper steht alleine > seine jeweilige Masse trägt um sich den dazu gehörigen Raum und dieser kann / wird nie unendlich sein denn er stößt an den jeweiligen nächsten Raum + den damit hinzugehörigen Körper an.“ 2013 schreibt sie: „Jede Existenz ist von jeder Weiteren abhängig. Somit entsteht ein Ort (an dem man gelangt) immer in Abhängigkeit oder im Zusammenwirken von sozialen Konstellationen. […] Meine Existenz beruht darauf, dass Andere mich wahrnehmen. Annahmen wurzeln in Erfahrung-Assoziationen die wiederum ihre Wurzeln in losen sowie direkteren Abhängigkeiten haben.“
2016 findet sie die eigenen Gedanken im Werk des japanischen Philosophens Kitarō Nishida wieder, dessen Essays „Ort“, „Ich und Du“ sowie „Ortlogik und religiöse Weltanschauung“, ursprünglich in den 1920er-, 1930er- und 1940er- Jahren erschienen und erst 1999 in der deutschen Übersetzung von Rolf Elberfeld veröffentlicht werden. Nishida legt ein philosophisches Modell dar, in dem Raum nur möglich ist, wenn „Seiende“ in einem Ort interagieren. Das westliche „Ich“ gibt es nicht, es gibt nur das Individuum in Bezug zu den anderen Individuen. Bogner unterstreicht im Buch: „Ich und Du werden aus derselben Umgebung geboren, so befinden sie sich als die Extensionen desselben Allgemeinen in ihm. Selbst wenn wir es vom Aspekt der Entwicklung aus betrachten, beginnt unser Ich (jiko) nicht als Individuum (kojin). Es beginnt vielmehr, wie es bei den Urvölkern zu beobachten ist, innerhalb eines Gemeinschaftsbewußtseins (kyōdōishiki). Man könnte somit behaupten, das Individuum werde aus der Gesellschaft geboren. Wie aber kann das dem individuellen Bewußtsein vorausliegende gemeinschaftliche Bewußtsein verstanden werden, und wie kann aus der Welt der Körper die Welt des Geistes entstehen?“5
LINIEN EINER WANDELBAREN KOPPELUNG
Die Fragen der Interaktion und des Gleichgewichts, die der Künstlerin in Los Angeles klar werden, erweitern in der aktuellen Arbeit der Künstlerin die früheren Überlegungen zu dem körperlichen Dasein und zu den psychischen Grenzen des Raumes. Bogners Raumsituationen versuchen ab 2013 Minimalwerte der Raumorganisation zu erreichen. Mit Bespannung von schwarzen Linien, Zeichnungen, Objekten, Fotografien in möglichst farbneutralen, hellen Räumen arbeitet sie an der Gratwanderung der Raumauflösung. Wie wenig braucht ein Raum wirklich, um als Raum zu funktionieren? Wenige Linien vielleicht, die den Raum durchbrechen und durch Momente der Irritation ihn als Ort des Handelns an der Konstruktion der Wirklichkeit öffnen.
Bogners jüngste Arbeiten basieren auf der Erkenntnis, dass Raum ein „Gegenstand“ der „geistigen und sozialen Kapazität“ der Menschen ist, wie sie im Notizbuch von 2016 vermerkt. Nur Menschen können von allen Lebewesen mit den eigenen Sprachen und über die sprachliche Kommunikation neue Räume konstruieren, die Teil ihrer Realität werden. Die chilenischen Biologen und Philosophen Francisco Varela und Humberto Maturana liefern dazu eine verständliche Erklärung. Ausgehend von naturwissenschaftlichen Beobachtungen erkennen die Wissenschaftler in der Sprache die menschlich spezifische strukturelle Koppelung an die Welt – vergleichbar mit der Außenmembran einer Zelle zur Interaktion mit ihrer Umwelt. Sie veröffentlichen in den 1980er-Jahren das Buch „Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens“, das ich natürlich im Bücherbestand der Künstlerin wieder treffe: „Sprache wurde niemals von jemandem erfunden, nur um damit eine äußere Welt zu internalisieren. Deshalb kann sie nicht als Mittel verwendet werden, mit dem sich eine solche Welt offenbar machen läßt. Es ist vielmehr so, daß der Akt des Erkennens in der Koordination des Verhaltens, welche die Sprache konstituiert, eine Welt durch das In-der-Sprache-Sein hervorbringt. Wir geben unserem Leben in der gegenseitigen sprachlichen Koppelung Gestalt – nicht, weil die Sprache uns erlaubt, uns selbst zu offenbaren, sondern weil wir in der Sprache bestehen, und zwar als dauerndes Werden, das wir zusammen mit anderen hervorbringen.“6
Die Antwort auf Nishidas Frage „Wie kann aus der Welt der Körper die Welt des Geistes entstehen?“ ließe sich dank Maturana und Varelas konstruktivistischer Erklärung mit einem „Versagen“ der gewöhnlichen „strukturellen Koppelung“ postulieren: „Nur wenn unsere strukturelle Koppelung in irgendeiner Dimension unserer Existenz einmal versagt, erkennen wir (wenn wir darüber reflektieren), in welchem Ausmaß unsere Verhaltenskoordinationen bei der Manipulation unserer Welt und bei der Kommunikation untrennbar sind von unserer Erfahrung. […] Es sind Momente der Änderung der Richtung unseres ontogenetischen strukturellen Driftens in einem endlosen Prozeß geschichtlicher Transformation.“7
Das Erkennen der „Manipulation der Erfahrung“ oder der „Momente der Änderung“ unserer „strukturellen Koppelung“ sind Hauptziele der künstlerischen Arbeit im Allgemeinen und der Arbeit von Anna-Maria Bogner im Speziellen. Ihr Werk war immer und ist auch bei den aktuellen stringenteren geometrischen Berechnungen eine geistige, philosophische, soziopolitische und spielerische Auseinandersetzung mit dem Raum. Wenn ihre Kunst „konkret“ ist, dann nur im Sinne des (Neo) Konkretismus einer Lygia Pape (1927–2004), welche Bogner für ihre phänomenologischen Ansätze und deren Erfindung neuer Interaktionen der Menschen mit der Welt schätzt. Konkrete Kunst widerlegt jeden symbolischen Bezug des Kunstwerks, während Anna-Maria Bogner jede Form der Wahrnehmung und jede geistige Handlung im Sinne neuer Verhältnisse der Menschen zur Raum-Zeit-Dimension offen lässt, welche ihre Arbeit einleiten könnte. Ihre Werke sind mit den Skulpturen von Fred Sandback in Zusammenhang gebracht worden. Doch im Unterschied zu Sandback, welcher mit runden, manchmal auch farbigen Gummibändern Räume gliedert und seine Sicht des Raumes mitteilt, zeichnet Anna-Maria Bogner in den Raum, damit andere ihn betreten und in einem eigenen Prozess neu (ab-)zeichnen können.
Dieser Beitrag versucht Bogners künstlerischen Werdegang anhand des Vergleichs ihrer Werke mit ihren konzeptuellen Überlegungen aus mehreren, wertvollen Notizbüchern sowie mit einzelnen ihrer Lieblingsautor*innen zu erzählen. In mehreren Fällen greifen die theoretischen Notizen der Künstlerin den Erkenntnissen aus den Kunstwerken vor, manchmal auch umgekehrt, sodass diese Erzählung nicht ganz linear sein konnte. Diese beschreibt dafür insbesondere, wie die Künstlerin ihre konzeptuellen Anliegen, über mehrere Jahre hinweg, mit unterschiedlichen formalen Lösungen konsequent verfolgt und weiterentwickelt hat.
Die vorliegende Publikation ist die erste, welche den philosophischen, kunstwissenschaftlichen und politischen Implikationen der Arbeit von Anna-Maria Bogner Aufmerksamkeit schenkt. Zwei Wissenschaftler betrachten sie in diesem Band aus Sicht der eigenen Disziplin. Lukas Madersbacher, der die Entstehung des perspektivischen Bildes unter anderen wichtigen Schwerpunkten seiner kunsthistorischen Forschungen untersucht hat, behandelt in seinem Beitrag bedeutende Meilensteine der Kritik an der Zentralperspektive in der Kunst und Kunstwissenschaft und setzt diese in Zusammenhang mit der Arbeit der Künstlerin. Der Text von Bernhard Perchinig trassiert unterschiedliche Momente und Modi der Grenzziehung im Laufe der politischen Geschichte Europas. Bogners Arbeit wird darin als ein wichtiger Beitrag zur theoretischen Untersuchung der Funktionen der Grenze
beleuchtet. Beide Autoren legen mit Anna-Maria Bogner die Dominanz der Linie(n) in der Wahrnehmung und Konstituierung von Raum fest, denn ihre präzisen Raumkonzepte stellen die Verführung dieses subtilen Elements der Ordnung, der Ein- und Ausgrenzung bloß. „Konkrete“ Linien im Raum machen den Stellenwert der „abstrakten“ Grenzlinien sichtbar und gleichzeitig deren Auflösung plausibel.
1 Brook, Peter: The Empty Stage, New York 1996, S. 105.
2 von Glasersfeld, Ernst: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt am Main 1996, S. 22.
3 Lodermeyer, Peter: RÄUMLICH 2: Anna-Maria Bogner, in: Ders. (Hg,): RÄUMLICH. Klaus Schmitt, Anna-Maria Bogner, Katalog Stichting IK 2012, Oost-Souburg 2012, S. 16.
4 Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2022, S. 82.
5 Nishida, Kitarō: Ich und Du (1932), in: Elberfeld, Rolf (Hg.): Nishida, Kitarō. Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, Darmstadt 1999, S. 145
6 Maturana, Humberto/Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Hamburg 1987, S. 253 f.
7 Maturana/Varela: Baum (wie Anm. 6), S. 251 f.
ROSANNA DEMATTÉ | Anna-Maria Bogner | Ergo | Katalogbeitrag: ERGO. Anna-Maria Bogner / Studioheft 45 | Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck | SIMB Verlag | 2023 | Text © Rosanna Dematté, Kuratorin und künstlerische Leiterin von Sonderprojekten der Tiroler Landesmuseen in Innsbruck, Austria
Seite/ Page: 14 – 47