Katia Huemer, 2018

 

PARANORMAL


Anna-Maria Bogner und Markus Wilfling

 

 

Raum ist kein Gegenstand, sondern vielmehr die Bedingung, unter der Gegenstände in Erscheinung treten können. Seine Existenz ist gleichzeitig so selbstverständlich wie diffus, während die Dingwelt, die im Raum besteht, sich uns als feste Größe darstellt. Der Raum ist nichts und alles zugleich, sich in ihm zu befinden bedeutet, von ihm umgeben zu sein.
Die Auseinandersetzung mit dem Raum ist das zentrale Thema in Anna-Maria Bogners künstlerischem Schaffen. Nach dem Prinzip „weniger ist mehr“ vermag die Künstlerin mit ein paar Linien die Weite eines Raumes zu öffnen oder die Differenz von innen und außen ins Bild zu setzen. Was Bogner mit minimalen Mitteln am zweidimensionalen Bildträger andeutet, sind Raumsuggestionen, die erst in unseren Köpfen Form annehmen. Denn wie Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft feststellte, können wir „uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen […].“[1] Das Auge wandert an den vorgegebenen Linien entlang wie in der Realität an Gebäudekanten, und der Kopf, ausgestattet mit räumlicher Erfahrung, ergänzt Fluchtpunkte, verschiebt Parallelen oder lässt Flächen erscheinen. Aufgrund des minimalistischen Stils umso eindrucksvoller, zeigt uns Anna-Maria Bogner, dass wir getrost die Vorstellung fallen lassen können, der zufolge der Mensch durch seine tägliche Wahrnehmung Einblick in die unverstellte Realität erhält und von etwas Feststehendem und Endgültigem umgeben ist, das immer schon da war. Auch wenn Bogner Inhalte tunlichst vermeidet, um den interpretativen Reichtum der Arbeit zu gewährleisten, legen die optischen Effekte ihrer architektonisch anmutenden Zeichnungen Metaebenen frei und rücken gesellschaftliche wie philosophische Fragestellungen ins Blickfeld. Vielleicht ist es gerade diese Verweigerung der Inhalte, die im Betrachter für Klarheit und in weiterer Folge für Offenheit sorgt. Klarheit ist jedoch ein hehres Ziel – sowohl für die Künstlerin als auch für jene, die sich auf ihre Werke einlassen. Auf die individuelle Wahrnehmung der Betrachter/innen hat Bogner ebenso wenig Einfluss wie auf ihre eigene. Ist also der Prozess der Konzeption und Realisierung einer Arbeit abgeschlossen und hat diese physische Realität erlangt – sei es in installativer Form oder im Bild –, steht sie dem subjektiven Erfassen aller offen – die Künstlerin mit eingeschlossen. Und nehmen wir an, wir hätten unsere Raumvorstellung mit Bogners Hilfe einer Revision unterzogen und derart grundlegend verändert, dass sie nun den Anschein erweckt, dem Bild von früher deutlich überlegen zu sein: Könnten wir dann behaupten, das Wesen von Raum nunmehr richtig erfasst zu haben oder zumindest über ein angemesseneres Verständnis von ihm zu verfügen? Oder müssen wir nicht davon ausgehen, dass diese Beurteilung der einzige Maßstab ist, der uns zur Verfügung steht?

 

Jener Zweifel an einem naturgegebenen „Normalzustand“, den Anna-Maria Bogners Arbeiten in uns säen, wird durch die Kunst von Markus Wilfling weiter genährt. Die sensibel ausgelotete Inhaltlichkeit von Wilflings Arbeiten enthält neben persönlichem Empfinden und naturwissenschaftlichen Konstellationen nicht zuletzt den Faktor Zufall. Viele Werke entstehen durch unbewusst gesetzte Handlungen im Atelier und lassen den Künstler unvermittelt das Potenzial erkennen, das im zufälligen Zusammentreffen einzelner Gegenstände miteinander entsteht. Das Innenleben eines über viele Jahre getretenen Fußballs, den Wilfling wörtlich aus der Schusslinie genommen und in einen nicht zu öffnenden Käfig gesteckt hat, um ihm ein „ewiges Leben“ als Skulptur zu schenken, trägt den Titel Kist‘n und Wuchtel (Liaison) und deutet damit das Dilemma des zweischneidigen und in der post-9/11-Welt mitunter als alternativlos empfundenen Zustand zwischen Eingesperrt-Sein und Schutz an. Insgesamt bilden Wilflings Werke ein Geflecht von persönlichen, formalen und gesellschaftlichen Assoziationen, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen oftmals nahtlos ineinanderfließen. My Personal Dark Moon betitelt der Künstler eine riesige, verrußte Wachskugel, die er seit 2013 in unzähligen Arbeitsstunden mit seinen Händen zum greifbaren Himmelskörper wachsen lässt. In die Schichten um Schichten gekneteten Wachs mischen sich Erinnerungen und Melancholie. Das Erscheinungsbild des Mondes, der mit jeder geschmolzenen Kerze und mit jedem einzelnen Handgriff des Künstlers seine Form verändert, ist jedoch nichts anderes als ein Momentzustand, den zu erkennen Wilfling uns in einer zweiteiligen Schriftarbeit ermahnt: JE TZT ist der Moment, der ebenso schnell vergeht wie er gekommen ist. Und einmal mehr kommt es auf den richtigen Blickwinkel an, um imstande zu sein, dieses Jetzt wahrzunehmen.

 

Ein anderes Wahrnehmungsphänomen gilt es in der Arbeit Spot zu entdecken. Wie so oft schöpft Markus Wilfling für dieses Werk aus dem Fundus von Vorhandenem. Ein Verpackungsmaterial aus Karton, das eine Gitterstruktur aufweist und an die Facettenaugen einer Biene erinnert, sorgt für einen erstaunlichen Effekt, indem beim Durchblicken in einem bestimmten Winkel ein Lichtkreis in Erscheinung tritt. Mit Rahmen und Stativ versehen und so würdig in Szene gesetzt, steigt der Karton von seiner unbeachteten Nebenrolle als Schutzmaterial zum Hauptdarsteller auf. So lässt sich Wilfling einmal mehr als Befreier der Dinge erkennen, indem er deren formale und physikalische Eigenschaften betont und sie zu selbstbestimmten Gegenständen macht.

 

Mit unterschiedlichen Strategien arbeiten Bogner und Wilfling an einer Neu-Kalibrierung der Sinne und schaffen durch Reduktion und Irritation alle Voraussetzungen, um die Schönheit dessen zu erkennen, was gegen die Natur oder – in Markus Wilflings Worten – paranormal erscheint. Der Zweifel, der im Betrachter und in der Betrachterin entsteht, ist produktiv, denn er führt nicht zur Resignation, sondern im Gegenteil zu ungeahnten Freiräumen im Denken, zu neuen Möglichkeiten. Ein größeres Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, die Dinge neu zu sehen und zu beschreiben, macht unser Leben reicher, vielfältiger und interessanter. Wir sind weniger geneigt, auszugrenzen und zu vertreiben und werden zu toleranteren, glücklicheren, vielleicht sogar zu besseren Menschen. Möglicherweise sind die Werke von Anna-Maria Bogner und Markus Wilfling für dieses Unterfangen nur leichte Gewitter. Doch diejenigen, die sich auf einen Perspektivenwechsel einlassen, vermögen diese Stürme vielleicht in eine andere, unvorhersehbare Richtung zu tragen.

 

[1] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Hamburg 1990, S. 121 (orig. Critik der reinen Vernunft, erschienen 1781).

 

 

 
Text zur Ausstellung PARANORMAL | September 30 – November 16, 2018

 

Anna-Maria Bogner | Markus Wilfling

 

Galerie artepari, Graz, Austria

 
 
 
Katia Huemer, Kuratorin, Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz, Austria
 
Text © Katia Huemer, 2018