Heike Eipeldauer, 2015

 

 

ANNA-MARIA BOGNER | Notion

 

 

„Die Linie ist das erste und das letzte, sowohl in der Malerei als auch generell in jeder Konstruktion”, erklärte der russische Konstruktivist Alexander Rodtschenko in seinem Pamphlet Die Linie (1921), um zugleich „ihre Bedeutung als Kante und Abschluss“ hervorzuheben wie auch „ihre Wichtigkeit als Element des Hauptaufbaus eines jeglichen Organismus im Leben, sozusagen als Skelett (oder Grundlage, Gerüst, System)“.[1] Zunächst als neuen Gestaltungselement gegenstandsloser Malerei bestimmt, in der die visuelle Wirkung von zusammentreffenden, mit dem Zirkel oder dem Lineal gezogene Linien auf verschiedenartigen Grundflächen erprobt wurde –, avancierte diese schließlich zum Katalysator für eine Entwicklung von der Bildfläche in den Realraum, eingesetzt zur Konstruktion funktionaler Objekte, wie sie die produktivistischen Funktionsbestimmung von Kunst vorsah.

 

Für die Künstlerin Anna-Maria Bogner bildet die elementare Linie – ob auf dem Papier gezeichnet, gekratzt oder als Installation verspannt – den Ausgangspunkt einer gezielten Dekonstruktion, die der Untersuchung zum Wesen von Raum gilt: „In welchen Räumen bewege ich mich, wie konstituieren sich meine Räume, welche Räume öffnen sich und welche verschließen sich mir? In wieweit verändert sich der existente Raum in unseren Erinnerungen?“[2] Bogners Ausstellung Notion gleicht einer experimentellen Laborsituation, in der Sehgewohnheiten irritiert und die Entstehung und Grenzen individueller – körperlicher ebenso wie imaginativer – Raumerfahrungen ausgelotet werden. Im Anschluss an die Diskurse rund um den spatial turn fasst Bogner Raum dabei nicht als neutrales Gehäuse oder gar als Territorium, sondern als soziales, von gesellschaftlichen Entwicklungen bestimmtes Phänomen, das sich im Prozess des Denkens und Handelns von Individuen konstituiert wie auch dieser wiederum von Räumen strukturiert wird.[3]

 

Den Ausstellungsparcours eröffnen poetische Landschaftsfotografien, körnige Silbergelatineprints auf Barytpapier, die landschaftliche Ausdehnung und Weite suggerieren, um im selben Zug deren kontemplative Betrachtung zu unterminieren. Aus dem Fotopapier herausgeschliffen, lenken weiße Balken und Linien, die über der Landschaft zu liegen oder diese förmlich durchzustreichen scheinen wie eine Bildstörung auf die materielle Oberfläche des Trägers und verhindern so die Entfaltung von Raumtiefe. Die Betrachtenden werden systematisch verunsichert, ihnen wird buchstäblich die Aussicht verbaut, der Boden unter den Füßen entzogen. Bogner Eingriffe in die Fotografie fordern Albertis Metapher vom Bild als Fenster heraus, die die Bildfläche als transparenten Schnitt durch die Sehpyramide definiert, wie auch das damit verbundene visuelle Ordnungsprinzip der Zentralperspektive, deren Regeln die Fotografie „von Natur aus“ zu erfüllen scheint. Zentralperspektivische Grundfiguren wie der Fluchtpunkt als Projektion des Betrachter- oder Kameraauges sowie der Horizont als menschlicher Referenzrahmen und als Grenze werden durch Demontage in ihrer als natürlich empfundenen, normativen Orientierungsfunktion offengelegt. Auch Bogners formal reduzierte Zeichnungen, die den Titel und Leitgedanken der Ausstellung – Notion, lateinisch von „notio“ = „das Kennenlernen, Kenntnisnehmen, Untersuchen, Erforschen, Konzeption, Idee, Begriff“ oder mit den Worten der Künstlerin die „Vorstellung von etwas, das im Auge des Betrachters liegt“[4] paradigmatisch zu verkörpern scheinen, spielen ebenfalls mit den Darstellungskonventionen der Zentralperspektive. Bereits die Andeutung perspektivischer Schachtelkonstruktionen mit nur wenigen Bleistiftlinien reicht aus, um ein dreidimensionales Sehen in Gang zu setzen. Mit schwarzer Pastellkreide setzt Bogner darin grafische Markierungen, die das Raumgerüst betonen oder auch Abweichungen davon erzeugen mittels versetzter Fluchtpunkte, Verdoppelungen oder Verschiebungen, die ein Kippmoment zwischen faktischer Flächigkeit und projektiver Räumlichkeit erzeugen. Die fehlende Vervollständigung ist bei Bogner künstlerische Strategie: Je nach individueller Lesart und mentaler Ergänzungsleistung können Bogners grafische Interventionen als Richtungsvektoren, als materielle Liniengebilde, die Figuren in der Fläche formen, oder auch als Grenzwände imaginierter Raumkörper ergänzt werden. In Bogners neuesten Zeichnungen wird die Schachtelkonstruktion durch ein Mindestmaß an Koordinaten angedeutet und großflächig durch schwarze mehrdeutige geometrische Formen aufgefüllt, die ein Hin-und-Herspringen zwischen Positiv- und Negativform, sich in die Tiefe öffnendem Schwarz und als Grenze bzw. Fläche wirkendem Weiß hervorrufen. So entstehen Momente der Irritation, aber auch der Befreiung beziehungsweise der Aktivierung der Betrachtung. Die Betrachtenden können sich nicht länger einer kontemplativen Haltung hingeben, sind gezwungen, sich ständig neu zu repositionieren und werden schrittweise auf ihre eigene (Raum-) Wahrnehmung zurückgeworfen. Die zeitliche Dimension des körperlich-räumlichen Sehens erfährt in Bogners zentralem Exponat der Ausstellung – einer Installation von im Raum verspannten schwarzen Gummibändern – eine weitere Steigerung. Je zwei parallel geführte, sich überkreuzende Linien sind durch zwei hintereinander liegende Räume gespannt und durchteilen und verschränken diese zugleich diagonal, fungieren als Begrenzung wie auch als Erweiterung von Raum. So entstehen fragile, gleichsam „bewohnbare“ Zeichnungen im Raum – wie der amerikanische Bildhauer Fred Sandback, in dessen Nachfolge Bogners Installation steht, seine Skulpturen einmal bezeichnete[5] –, die das das Nichts, den leeren Raum, den sie einfassen als skulpturales Material aktivieren; die Zwischenräume erhalten virtuelle Gestalt, die jedoch bei jedem noch so geringen Positionswechsel der Betrachtenden kollabiert, um sich abermals zu konstituieren: von der Linie zur Fläche zum Raum und zurück zur Linie. „Die Linie ist die Passage, die Bewegung, die Berührung, Kante, Gegenzeichnung, Schnitt,“ heißt es bei Rodtschenko. Bogners subtiler Eingriff in die Raumsituation macht einen spezifischen Aspekt der Architektur des ehemaligen Postgebäudes in Bregenz körperlich erfahrbar, der für das Auge kaum sichtbar ist: In der Bewegung durch den Raum entlang der Fluchtlinien stellt sich ein leichter körperlicher Widerstand ein – das Gebäude hat sich Richtung Bodensee um 30 Zentimeter gesenkt, man geht also buchstäblich bergauf. Ein Raum ist nie ein und derselbe, jede Raumerfahrung ist zutiefst subjektiv, basierend auf individuellen Vorstellungen und Erfahrungen, gebunden an das Erleben des eigenen Körpers im Hier und Jetzt – so eine wesentliche Prämisse in Bogners Untersuchung. Die letzte Arbeit der Ausstellung Nunc Stans (2012), das „stehende Jetzt“, besteht aus der Projektion eines leeren Dias auf eine weiße Wandfläche, deren täglicher Wechsel mit Tages- und Zeitpunkt dokumentiert wird. Die Projektion aus diffusem Licht, in der sich alle begrenzenden Linien aufgelöst haben, bezeichnet eine leere Zeitspanne, das Paradoxon der Zeit, „dass gerade der flüchtigste Augenblick unserer Existenz zugleich ihre größte erfahrbare Konstante verkörpert“[6]. Der „Augenblick der Aktualität [ist] alles, was wir je unmittelbar erfahren können“[7] – ein Moment, der sich nicht aufzeichnen lässt.

 

[1] Alexander M. Rodtschenko, Rede, Moskau, 23. Mai 1921, in: Peter Noever (Hrsg.), Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa. Die Zukunft ist unser einziges Ziel…, Ausst.-Kat. Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, Staatliches Museum der Bildenden Künste A. S. Puschkin, Moskau, München 1991, S. 135.

 

[2] Anna-Maria Bogner, Email an die Autorin , 15. Oktober 2015. Zur Arbeit von Anna-Maria Bogner vgl. Peter Lodemeyer, „,…der Unterschied macht Raum überhaupt erfahrbar…’. Eine Annäherung an die Arbeiten von Anna-Maria Bogner“, in: Vescon (Hrsg.), Anna-Maria Bogner, Wien 2011.

 

[3] Vgl. Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001.

 

[4] Bogner (wie Anm. 2).

 

[5] Fred Sandback, November 1998, in: Friedemann Malsch, Christiane Meyer-Stoll, Fred Sandback, Ausst.-Kat. u.a. Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Ostfildern-Ruit 2005, S. 152.

 

[6] Bogner (wie Anm. 2).

 

[7] George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt am Main 1982, S. 51.

 

 

 

ANNA-MARIA BOGNER | Notion

 

Heike Eipeldauer

 

 

Translated from German by Anne Posten

 

 

“The line comes first and last, in painting as well as generally in every construction,” the Russian constructivist Alexander Rodchenko explained in his pamphlet The Line (1921), emphasizing both “its significance as border and conclusion” and “its importance as an essential structural element of every organism in life, as a skeleton, so to speak (or foundation, framework, system).”1 Initially intended as a new design element in abstract painting, which experimented with the visual effect of converging lines drawn with a compass or ruler on various surfaces, the line ultimately became a catalyst for the development of the pictorial surface into real space, deployed in the construction of functional objects, according to the productivist vision of art’s purpose.

 

For the artist Anna-Maria Bogner, the simple line—whether drawn or scratched on paper or tensed in an installation—is the point of departure for a purposeful deconstruction that serves as an investigation into the nature of space: “In which spaces do I move? How are my spaces constructed? Which spaces open to me and which close? To what extent are real spaces altered in memory?”2 Bogner’s exhibition Notion resembles an experimental lab where habits of seeing are challenged and the formation and limits of individual—physical as well as imagined—experience of space is tested. In connection with the discourse around the spatial turn, Bogner understands space not as a neutral shell or territory, but rather as a social phenomenon determined by societal developments, constituted by individuals in the process of thinking and acting, just as they in turn are structured by space.3

 

Poetic landscape photographs line the course of the exhibition, grainy silver gelatin prints on baryta paper that suggest distance and expanse, and at the same time undermine contemplative observation. Distorted by the photo paper, white bands and lines that seem to lie across the landscape or to literally strike through it like interference direct the viewer to the material surface, thereby frustrating the sense of spatial depth. Viewers are systematically unsettled, their view is literally blocked, the ground pulled out from beneath their feet. Bogner’s photographic interventions challenge Alberti’s metaphor of the picture as window, which defines the image surface as a transparent slice of the visual pyramid, as well as the related visual organizing principle of central perspective, with whose rules photography “by nature” seems to comply. Basic elements of central perspective, such as the vanishing point as a projection of the viewer’s or camera’s eye, or the horizon as human frame of reference and border are dismantled and revealed to be normative orientation aids that only seem natural. Bogner’s formally reduced drawings, which seem paradigmatically to embody the title and guiding principle of the exhibition—Notion, latin from “notio” = “becoming acquainted, cognizance, investigation, examination, conception, idea, concept,” or in the artist’s words, “the imagining of something that lies in the eye of the viewer,”4 also play with the conventions of central perspective. Just the suggestion of a box drawn in perspective is enough to set three-dimensional seeing in motion. Bogner adds graphic markings with black pastel crayon that emphasize the framework of the space or depart from it: displaced vanishing points, doublings or displacements that constitute a turning point between actual flatness and projective spatiality. This non-completion is an artistic strategy: according to personal reading and mental input, Bogner’s graphic interventions can be seen as directional vectors, material lineal entities that form figures across the surface, or as the border walls of imagined spatial bodies. In Bogner’s newest drawings, the box structure is suggested with a minimum of coordinates and filled in extensively with ambiguous black geometric shapes which oscillate between positive and negative forms—black opening into depth and white evoking borders or surfaces. This creates moments of visual irritation, but also liberates or activates viewing. Viewers cannot indulge in any one contemplative stance for long, but are forced to continually reposition themselves, moving step by step towards their own perception (of space). In the central piece of the exhibition, an installation of black rubber bands stretched through the room, the temporal dimension of physical-spatial seeing is heightened even more. Each set of lines, stretched parallel to each other and crisscrossing another set of parallel lines, is stretched through two rooms, one behind the other, dividing them and crossing them diagonally, and functioning both as limit and extension of the space. This creates fragile yet “habitable” drawings in space—as the American sculptor Fred Sandback, one of Bogner’s artistic forebears, once described his drawings.5 These activate the nothingness, the empty space that they frame, turning it into sculptural material; the interstices are given a virtual form, which however collapses when the viewer shifts position even slightly, only to be reconstituted: from line to surface to space and back to line. “The line is passage, movement, contact, edge, counterdrawing, cut,” Rodchenko writes. Bogner’s subtle intervention into the spatial situation makes a specific aspect of the architecture of the former postal building in Bregenz physically perceptible, though it is barely visible: moving through the space along the vanishing lines causes a slight physical resistance — the building has sunk 30 centimeters toward Lake Constance, so it is literally an uphill journey. A space is never one and the same thing: every experience of space is deeply subjective, based on individual perceptions and experiences related to the experience of one’s own body in the here and now—an essential premise in Bogner’s experiment. The last piece in the exhibition Nunc Stans (2012), the “standing now,” consists of the projection of an empty slide projector on a white wall, whose daily changes were documented with dates and times. The projection of diffuse light, in which all restricting lines have dissolved, marks an empty span of time, the paradox of time, “that precisely the most fleeting moment of existence represents its greatest perceptible constant.”6 The “instant of actuality is all we ever can know directly”7—a moment which cannot be traced or recorded.

 

 

 

 

1 Alexander M. Rodchenko, Rede, Moscow, May 23, 1921, in: Peter Noever (ed.), Alexander M. Rodtschenko. Warwara F.
Stepanowa. Die Zukunft ist unser einziges Ziel…, Exhibition catalogue Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Vienna,
Staatliches Museum der Bildenden Künste A. S. Puschkin, Moscow, Munich 1991, Pg. 135.

 

2 Anna-Maria Bogner, email to the author, October 15, 2015. On Anna-Maria Bogner’s work cf. Peter Lodemeyer, “ ‘…der Unterschied macht Raum überhaupt erfahrbar…’. An approach to the work of Anna-Maria Bogner,” in Vescon (ed.), Anna-Maria Bogner, Vienna 2011.

 

3 Cf. Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

 

4 Bogner (as in note 2).

 

5 Fred Sandback, November 1998, in:Friedmann Malsch, Christiane Meyer-Stoll, Fred Sandback, exhibition catalogue,
Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, Ostfildern-Ruit 2005, Pg. 152.

 

6 Bogner (as in note 2).

 

7 George Kubler, The Shape of Time. Remarks on the Historx of Things, New Haven/London: Yale University Press, 1962, p. 17.

 
 
 
 
Heike Eipeldauer, Kuratorin, Wien, Austria
 
Text © Heike Eipeldauer, 2015

 
Translation © Anne Posten, 2015