Esther Stocker, 2019
Zur Ausstellung von Anna-Maria Bogner „VARIABLE LIMITS“
Revolte gegen den Raum
Es beginnt eigentlich mit der Linie.
Die Linie ist der Anfang, also der Anfang des Ausdrucks. Der Wille irgendwohin zu kommen.
Oder die Tendenz in eine Richtung. Es ist auch die Form, die direkt aus der Überlegung kommt.
Ein sehr direkter Weg vom Gehirn nach „Außen“. Eigentlich ist die Linie die Verlängerung der denkenden Hand.
Von Anna-Maria Bogner gibt es das Gerücht, dass ihre Arbeiten anstrengend sind.
Handeln ihre Arbeiten von Fragen zum Raum? Beschreiben diese Linien so etwas wie Raum?
Ich würde sagen nein.
Ich würde sagen sie revoltieren gegen den Raum. Sie zerschneiden sogar Raum und wenn ich selbst eines gewiss sagen kann, dann dass mir beim Betrachten der Zeichnungen/Grafiken von Anna-Maria Bogner die Kategorie Raum grundsätzlich verloren geht. Es beginnt zwar mit räumlichen Vorstellungen, am Ende bleibt aber nicht mehr viel davon übrig.
Die Linie von Anna-Maria Bogner ist mehr Revolte als Raum, sie beschreibt weniger den Raum als sie sich gegen ihn auflehnt.
So geht es mir bei der Betrachtung dieser Arbeiten: Die Identität des Raumes löst sich auf, was bleibt ist ein System von Richtungen das in mehrere Dimensionen zeigt. Das auch Zeit abbildet.
Diese Arbeiten sind gedacht und denken durch Räume durch.
Natürlich weiß ich um die Vorherrschaft des Raumes, um seine Dominanz. Aber so dominante Kategorien gehören ja auch hinterfragt.
Der Raum ist vielleicht genauso gewiss wie der Tod, aber genauso uninteressant, genauso wie der Tod muss er ignoriert werden.
Und ich denke die Kunst ist ebenso eine Revolte gegen den Tod.
Hier ist nicht der Raum die Wahrheit, sondern die Linie.
Die Linie, eher wie ein Mensch.
Was mich zur Frage der Identität bringt: Wo ist meine Begrenzungslinie?
Wo bin ich? Wo sind die Grenzen vom Ich? Wo ist der Übergang, zum anderen und wo sind die Enden und Verbindungen dazu?
VARIABLE LIMITS ist der Titel dieser Ausstellung, und variable Grenzen sind auch für unsere Individualität maßgeblich.
Existenziell stehe ich an einem Punkt, aber mental bin ich an vielen Punkten. Mental bin ich der Linie ähnlicher. Einer unendlichen Linie. Eine Tendenz, eine Richtung, mehrere Richtungen.
Ich bin Teil der Raumgeometrie, von ihr definiert und definiere sie auch selbst.
Auch ich denke durch Räume durch, statt mich darin zu befinden.
Das hat selbstverständlich existenzielle Gründe.
Die Linien werden zu Systemen und ein offenes System ist das, was dem Menschen an ähnlichsten ist.
Die ikonische Kraft der Zeichensprache von Anna-Maria Bogner beruht auf der präzisen Setzung der Linie und auf die Stellen, die sie freigibt.
Was mich in ihrem Werk am meisten beeindruckt ist ihre Fähigkeit zur Beschränkung. Ihr Mut zur Definition der Leere, und ihre Beharrlichkeit der konstruktiven Auflösung.
Es gibt Wahrheit in der Geometrie und der Vermessung des Raumes. Aber es gibt auch Wahrheit in dem Ausbrechen dieser Formen, den Verschiebungen, den Leerstellen, den Linien, die abweichen. Da passiert Freiheit.
Es geht hier um Freiheit, es geht um Raumrevolte. Die Revolte ist die Auflehnung gegen eine Norm. Es ist der Ausbruch aus der herkömmlichen Raumbetrachtung.
Eröffnungsrede zur Ausstellung VARIABLE LIMITS | September 18, 2019 – October 31, 2019
Anna-Maria Bogner
Galerie Lindner, Schmalzhofgasse 13/3, 1060 Wien, Austria
Esther Stocker, Artist, Vienna, Austria
Text © Esther Stocker, 2019