Bernhard Perchinig, 2023

 

 

Anna-Maria Bogners Rauminterventionen als Migrationsmetaphern

 

 

ZUR GESCHICHTE DER GRENZE

Internationale Grenzen sind Linien auf Karten und Globen, in der Natur gibt es diese Linien nicht. Dennoch sind sie eine der wirkmächtigsten Linien, welche die Menschheit hervorgebracht hat. Nicht immer sind die Linien gerade. Vor allem in Europa sind es oft wild gezackte, ihre Richtung immer wieder ändernde Linien, und die von ihnen begrenzten Flächen haben sehr unterschiedliche Größen. Anders in Afrika und Asien und den Amerikas, dort sind die Grenzen oft wie mit dem Lineal gezogen. Was auf dem Papier wie eine Linie aussieht, kann vor Ort ganz unterschiedlich sein: Von einer in der Landschaft stehenden, abgewitterten Grenztafel auf einer Almwiese bis hin zu mit Nato-Stacheldraht und mit Abwehrelektronik bestückten meterhohen Grenzzäunen. Ob die Linie am Papier einladend oder bedrohlich ist, erschließt sich erst vor Ort.

Über längere Zeiträume stabile Staatsgrenzen sind eine historisch junge Erfindung. Zwar kannte schon das antike Griechenland – oft gemeinsam festgelegte – Abgrenzungen der jeweiligen Stadtstaaten, und auch im römischen Reich fand sich mit dem befestigten Limes – ein Graben- und Wallsystem mit mehr als 300 Türmen – ein erstes militärisch befestigtes Grenzsicherungssystem. Im Mittelalter waren jedoch Grenzen im Sinn einer durch den Raum laufenden Linie nicht bekannt, die Übergänge von einem zum anderen Herrschaftsgebiet waren räumlich kaum wahrnehmbar. Die wahrnehmbaren Grenzen fanden sich nicht zwischen den Ländern, sondern in Form von Stadtmauern, Mauern von Burgen und Klöstern oder fallweise Zäunen, die ein Dorf begrenzten. Die Landesherrschaft war nur punktuell durch äußere Zeichen wie Wappen an den Burgen oder Zollstellen erkennbar. Nur wenige Menschen – etwa ausgebildete Handwerker – verließen im Lauf ihres Lebens den Ort, an dem sie geboren worden waren. In weiten Teilen Europas gehörte die bäuerliche Bevölkerung zum Grundbesitz des Feudalherrn und war damit ans Land gebunden.

Die alltagsrelevanten Grenzen waren für sie nicht die Landesgrenzen, sondern die Grenzen des Dorfes, der Weiden und Felder – alles Grenzen, die an konkrete landschaftliche Spezifika gebunden waren. Diese Besitz- und Nutzungsgrenzen wurden zudem nicht als Linien, sondern als sich überschneidende Zonen oder Flächen, als diffuse Grenzregion gedacht. Dies zeigt sich auch in der Sprache: Der althochdeutsche Terminus für Grenze war „marca“ oder „marchia“ und bezeichnete sowohl die Grenze wie die sie umgebenden Flächen. Das deutsche Wort „Grenze“ ist ein Lehnwort aus dem Westslawischen: „Granica“ bzw. „Granicia“ war im Polnischen die Bezeichnung für die in die Bäume eingehauenen Markierungen von Rodungsflächen. Erst seit dem 15. Jahrhundert wurde das Wort „Grenze“ im Deutschen gebräuchlich.1

 

DIE GRENZE ALS LINIE

Die Staatsgrenze als eine zwei staatliche Territorien stabil trennende Linie ist ein indirektes Ergebnis der „Bellizität Europas“2 in der frühen Neuzeit. Erst der Westfälische Frieden (1648) beendete den Dreißigjährigen Krieg, der als Konfessionskrieg begonnen und sich auf ganz Europa ausgedehnt hatte. Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges kam es zu einer Verdichtung der Staatlichkeit und einer Stärkung der Macht der Fürsten und städtischen Herrscher sowie zu einem Machtverlust der Feudalherren. Die Staatenbildung wurde vor allem vom Ersatz der Ritterheere durch Söldnerheere angetrieben, für deren Bezahlung regelmäßig Steuern eingetrieben werden mussten. Die Steuereintreibung durch bewaffnete Söldner brachte die Fürstenherrschaft in die Dörfer, die Grunduntertanen mussten nun nicht nur für die Grundherren Robot leisten, sondern auch den Fürsten Steuern abliefern. Die Ausbreitung der Steuereintreibung auf die gesamte Fläche der Fürstentümer ersetzte sukzessive das persönliche Herrschaftsverhältnis von Feudalherr und Untertan durch abstrakte territoriale Herrschaft.

Der Westfälische Frieden führte somit sowohl zur Anerkennung einer Reihe neuer Staaten und zur Neuorganisation des Heiligen Römischen Reichs als auch zur Etablierung des Prinzips der Souveränität und der territorialen Integrität von Staaten, das bis heute die Grundlage des Völkerrechts bildet. Dadurch bekamen Staaten das Recht, ihre Angelegenheiten ohne Einmischung von anderen Staaten zu regeln, und wurden dazu verpflichtet, die jeweiligen Staatsgrenzen zu respektieren. Zudem beendete der Westfälische Friede den Religionskrieg in Europa und begründete Europa als politischen Raum der Koexistenz und Interaktion von durch klare Grenzen voneinander getrennten, gleichwertigen und gleichberechtigten Staaten.

Damit einher ging ein neues Verständnis der Grenze als Linie.3 Antike und mittelalterliche Landkarten enthielten zwar Darstellungen von Kontinenten, Regionen oder Städten, aber keine politischen Grenzen. Erst im 17. Jahrhundert fanden sich die ersten Darstellungen politischer Grenzen, die oft an topografischen Merkmalen, wie Bergzügen oder Flussverläufen, anknüpften. Dies war Ausdruck des damals vorherrschenden Konzepts der „natürlichen Grenze“ – topografische Hindernisse wurden als ideale Form der Abgrenzung staatlicher Herrschaftsgebiete gesehen, die Grenze war als von der Natur vorgegeben gedacht. Im 18. Jahrhundert entwickelte das entstehende Völkerrecht zusätzlich das Konzept der politischen Grenze als Ergebnis von Kriegen oder Vertragsverhandlungen. Der deutsche Jurist und Mitbegründer des Völkerrechts Karl Gottlob Günther beschrieb diese drei unterschiedlichen Grenzkonzepte folgendermaßen:

„Die Grenzen des Landes sind entweder solche, wo die Natur selbst die Unterscheidungszeichen an die Hand giebt, welche die Nazionen zur Richtschnur annehmen, und heissen natürliche (limites naturales, occupatorii) oder solche, welche durch Kunst und menschlichen Fleis aufgerichtet werden, künstliche (artificiales). Eine dritte Gattung, welche durch Bestimmung abgemessener Rechte in Verträgen festgesetzt werden, heissen politische Grenzen (politici, mensurati). Dieienigen Territorien, welche natürliche Grenzen haben, werden von Grotius territoria arcifinia, die beiden andern hingegen limitata genannt.“4

Diese Vorstellung einer Grenze als Ergebnis von Verhandlungen nach politischen oder militärischen Auseinandersetzungen über das Staatsgebiet löste die Grenze von der konkreten Topografie und verschob sie in den abstrakten Raum. Diese Verschiebung eröffnete einen neuen Blick auf Grenzräume: Evozierte das Konzept der „natürlichen Grenze“ das Bild eines statischen Nebeneinanders räumlich unveränderbarer Herrschaftsgebiete, so stellte das Konzept der linearen Grenze ihren abstrakten Charakter in den Vordergrund und implizierte damit ihre Veränderbarkeit. Damit wurde das Primat der Politik im Raum verankert. Wo es keine „natürlichen Grenzen“ mehr gibt, ist die Grenze ein politisches Produkt. Ob entlang der Grenzen Konflikte ausgetragen und Kriege geführt werden oder ob die Grenze im Alltag grenzüberschreitender Kooperation eine Rolle spielt, ist inzwischen eine nur mehr auf politischer Ebene entschiedene und weder von Natur noch Gott abhängige Frage, die Grenzlinie selbst ist nicht mehr als ein leerer Signifikant.

 

DIE WECHSELNDE BEDEUTUNG VON STAATSGRENZEN

Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist ein Lehrstück über die wechselnde Bedeutung von Staatsgrenzen. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Staatslehre vorherrschende Merkantilismus sah Warenimporte und die Abwanderung der Bevölkerung als Bedrohung der staatlichen Existenz, die Außengrenzen wurden daher verstärkt bewacht und fortifiziert. Bis zur Aufhebung der Erbuntertänigkeit der bäuerlichen Bevölkerung in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts war die Umsiedlung in einen anderen Ort von der Genehmigung der Grundherrschaft abhängig, die das Recht hatte, über den Aufenthaltsort der Grundzugehörigen zu bestimmen.5

Die sich auf Marktproduktion hin orientierende Landwirtschaft, das im Zug der Verstädterung expandierende Baugewerbe und die Industrialisierung steigerten die Nachfrage nach Arbeitskräften massiv, die nach der Bauernbefreiung wachsende Zahl Landloser fand sich nun als mobile Arbeitsmigrant*innen in den Städten wieder. Die bisherige Kontrolle der Binnenmigration stand nun dem Wirtschaftswachstum im Wege und wurde durch die allgemeine Reise- und Bewegungsfreiheit ersetzt. Diese Freiheit galt allerdings oft nur, solange nicht öffentliche Fürsorge in Anspruch genommen wurde. Im Fall der Einkommenslosigkeit wurde das „Heimatrecht“ als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument schlagend; die Mittellosen wurden von der Polizei in ihre Herkunftsgemeinde abgeschoben.

Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominante Liberalismus lehnte Grenzkontrollen ab und forderte eine freie Bewegung der Arbeitskräfte. Nachdem die USA bereits 1802 die Passpflicht bei der Einreise abgeschafft hatten, folgte Großbritannien 1836. Ab den 1860ern kam es auch in West- und Mitteleuropa zu einer sukzessiven Aufhebung der zuvor bestehenden Auswanderungsverbote und einer weitgehenden Abschaffung der zwischenstaatlichen Grenzkontrollen.6

Erst der wachsende Nationalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts machte aus den Staatsgrenzen wieder Mobilitätshürden. Konnte Stefan Zweig vor 1914 noch ohne Reisepass nach Indien und Amerika reisen, so verwandelte sich Europa nach dem 1. Weltkrieg wieder in einen Kontinent der befestigten Grenzen und nationaler Schließung. Die Grenze wurde nun allerdings nicht mehr an Natur, sondern an Kultur rückgebunden und zur Linie der Konfrontation zwischen zwei als kulturell homogen imaginierten Nationalstaaten. Diplomatisch als „Bevölkerungsaustausch“ umschriebene ethnische Säuberungen kennzeichneten die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, Minderheitenunterdrückung war ihr Pendant im Inneren des Staates. NS-Diktatur und Faschismus zerstörten die Idee einer abstrakten Grenze als Verbindungsstelle zwischen Nachbarstaaten endgültig, Grenzen wurden zu Todesstreifen.

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieben in Europa Grenzen alles andere als abstrakt. Der „Eiserne Vorhang“ war eine militarisierte Todeszone, der die zuvor alltägliche Kooperation über die Grenzen beendete. Staatliche Grenzkontrollen und Zollbestimmungen hinderten bis in die 1980er-Jahre die innereuropäische Mobilität, erst die demokratischen Reformen in Osteuropa führten zum Ende des zweigeteilten Europa. Während der Zerfall Jugoslawiens zu den blutigsten europäischen Kriegen um Grenzen führte, wurden die innereuropäischen Grenzen mit der sukzessiven Erweiterung der EU seit den 1990ern und der Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengener Abkommen wieder zu abstrakten Linien, die Mobilität, Handel und Austausch nicht mehr verhinderten, sondern Kooperationszonen regional verorteten. Das Ende der Grenzkontrollen und der Abbau der Grenzposten waren das für alle sichtbare Zeichen dafür, dass in Europa ein gemeinsamer Mobilitätsraum entstanden war.

 

DIE AUFRÜSTUNG DER EUROPÄISCHEN AUSSENGRENZEN

Die Freude über die Ausdünnung der innereuropäischen Grenzen ließ lange Zeit einen parallelen, gegenteiligen Prozess im Dunkeln: die seit den 1990er-Jahren zu beobachtende zunehmende Militarisierung der Außengrenze. Nach 9/11 wurde Migration aus außereuropäischen Ländern zunehmend als Sicherheitsrisiko definiert und als potentielle Bedrohung gesehen, der mit verstärkter Polizeikooperation im Rahmen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX begegnet werden sollte. Diese begann bald nach ihrer Gründung, Migration militärisch zu verstehen: Neben der Kontrolle der Außengrenze wurde die Beobachtung von Migrationsbewegungen

in den Nachbarstaaten und die Abschätzung der potentiellen Auswirkungen auf die EU-Staaten zu einer zentralen Aufgabe der Organisation, und damit das Konzept der linearen Grenze in die Fläche verlagert: Migrationsbewegungen sollten nicht an der Grenze, sondern bereits im Vorfeld erkannt und verhindert werden. Gleiches zeigte sich bei der zunehmenden Auslagerung der Grenzkontrolle an die nordafrikanischen Staaten, die seit den 2000er-Jahren vermehrt Geldmittel bekamen, um ihre Grenzen zu den subsaharischen Staaten besser zu schützen und so Migration nach Europa zu verhindern. Der Pakt der EU mit der Türkei und die aktuellen Verhandlungen der EU mit Tunesien sind deutlicher Ausdruck der Tendenz, Nachbarstaaten als Grenzfläche zu begreifen und Grenzpolitik vor allem als Verhinderung der Migration aus dem globalen Süden zu betreiben.

Sowohl in der EU als auch weltweit kam es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zudem zu einer Umwandlung von zuvor abstrakten in befestigte Grenzen. Gab es weltweit um 2000 noch rund 30 Grenzmauern und Grenzzäune, sind es heute rund 350.7 Obwohl es einen Konsens in der Migrationsforschung gibt, dass Grenzbefestigungen Migrant*innen nicht abschrecken, sondern nur ihre Reise schwieriger, gefährlicher und teurer machen, greifen immer mehr Staaten auf die Militarisierung der Grenzen als migrationspolitisches Mittel zurück. Die kritische Migrationsforschung erklärt diese Entwicklung mit dem Begriff des border spectacle: Indem sie die sonst die grüne Grenze überschreitenden und somit in der Öffentlichkeit „unsichtbaren“ irregulären Migrant*innen sichtbar machen, inszenieren die Staaten irreguläre Migration als Bedrohung der staatlichen Ordnung. Dies soll die Aufrüstung der Grenzen legitimieren und sie in der öffentlichen Meinung zum legitimen Ort der Aussortierung von gewünschten und ungewünschten Migrant*innen machen. Die meisten Außengrenzen Europas sind inzwischen keine abstrakten Linien mehr, sondern militarisierte „Sortiermaschinen“8, die, wie der Tod von 700 Geflüchteten beim Kentern eines Flüchtlingsschiffes am 16. Juni 2023 zeigt, auch tödlich sein können: Immer mehr Zeugenaussagen belegen, dass das Schiff von der griechischen Küstenwache bei einem „push-back“ zum Kentern gebracht wurde und die Küstenwache danach keine ausreichenden Rettungsversuche unternahm.

“Migrants only become ‘illegal’ when legislative or enforcement-based measures render particular migrations or types of migration ‘illegal’– or in other words, illegalise them. From this standpoint, there are not really ‘illegal’ migrants so much as illegalised migrants. […] The Border Spectacle sets a scene that appears to be all about ‘exclusion,’ where allegedly ‘unwanted’ or ‘undesirable’– and in any case, ‘unqualified’ or ‘ineligible’ – migrants must be stopped, kept out, and turned around. At the same time, the border appears to demonstrate, verify, and legitimate the purported naturalness and putative necessity of such exclusion.”9

 

ANNA-MARIA BOGNERS RAUMINTERVENTIONEN UND DIE THEORIE DER GRENZE

Ich habe Anna-Maria Bogners Rauminterventionen lange vor allem als subtile und hoch reflektierte Auseinandersetzung mit dem „white cube“ gesehen. Als ich vor zwei Jahren begann, mich intensiver mit der Geschichte und dem Konzept der staatlichen Grenzen auseinanderzusetzen, änderte sich mein Blick. Grenzen zu setzen oder zu lösen und damit Bewegung im Raum zu ermöglichen oder zu kontrollieren, ist eine der zentralen Aspekte von Staatlichkeit, im Völkerrecht bestimmt bis heute die Trias Staatsgebiet–Staatsvolk–Staatsgewalt, was einen Staat ausmacht. Kein Staatsgebiet ohne Grenzen, und zwar ganz konkret: Jeder Grenzstein ist exakt vermessen, der Grenzverlauf in bilateralen Verträgen festgelegt. Bleiben Grenzen abstrakt, ist dies nicht viel mehr als angewandte Geografie; werden sie problematisiert und kippen sie ins Konkrete, werden sie zu Mobilitätshürden und bestimmen über Lebenschancen. Mobile Menschen werden erst durch internationale Grenzen zu Migrant*innen. Je mehr Grenzen, umso mehr Migration, und umso mehr Gelegenheiten, nationalen Narrativen zu frönen.

Die gespannten Bänder, die in Anna-Maria Bogners Interventionen die Ausstellungsräume durchschneiden, stellen die Frage nach der Funktion von Grenzziehung in abstrakter Form: Nicht nur ändert sich je nach Standort durch die Bänder die Perspektive und der Blickwinkel, auch der Wechsel auf die andere Seite des Bandes fühlt sich anders an als ein normaler Schritt im Raum. Diese Irritation hat eine zentrale Botschaft: Raum und Grenzen sind menschliche Konstrukte, sie könnten anders aussehen und anders verlaufen, dies würde auch uns als Betrachter*innen zu anderen Wahrnehmungen führen. Die Besucher*innen bemerken dies, sie nähern sich bei den Ausstellungen den gespannten Bändern mit Ernsthaftigkeit, kaum jemand ignoriert sie oder stolpert unaufmerksam in sie hinein: „Das Begehen der Grenze verleiht Haltung“, antwortete mir vor vielen Jahren der Vater eines Freundes, als ich ihn fragte, warum er einmal im Jahr die Grenzen der Grundstücke seines Bauernhofs abging.

Die Dekonstruktion des Raums durch die Linie der gespannten Bänder hat frappierende Parallelen zur historischen Entwicklung des Grenzverständnis von der „natürlichen“ zur abstrakten Grenze: Der feste, gebaute Raum – sei es ein Museum, eine Kirche oder ein „white cube“ – hat topographisch klar definierte Außen- und Innenmauern, die nur durch Umbau oder Abriss verändert werden können. Die Präsenz des Raums verdankt sich der Materialität und der Kubatur, und alles an ihm sagt: Mich gibt es schon lange und es wird mich noch lange geben. Um ihre Mauern zu ändern, müssten Baumaschinen und Bautrupps auffahren, es bräuchte Tonnen an Baumaterialien, schwere Arbeit und viel Zeit.

Die in den Installationen von Anna-Maria Bogner gespannten Schnüre schaffen hingegen die Veränderung des Raums durch elegante Leichtigkeit. Sie geben den Betrachter*innen Freiraum, den Raum anders zu denken, sie können selbst ihre Ideen zu den strikt abstrakten Linien entwickeln. Die Bänder selbst zeigen deutlich, dass sie nicht für die Dauer gemacht sind. Anders als die steinernen Grenzen des Ausstellungsraums sind sie abstrakte Grenzen, die keinen Anspruch auf Legitimation durch die Natur, die Geschichte oder eine übergeordnete Autorität anmelden. Gerade ihre Leichtigkeit und Temporalität stellen die Grenzen der gebauten Räume viel deutlicher infrage als jeder Eingriff in deren Materialität. Vielfach intensivieren die gespannten Bänder die Präsenz der Ausstellungsräume und betonen ihre Stärken, zeigen aber auch gnadenlos ihre Schwächen: Die vertikal gespannten Bänder betonen die räumliche Stimmigkeit des Eingangs der neuen Galerie des Universalmuseums Joanneum in Graz (Abb. S. 47), hingegen braucht es nur wenige elastische Bänder, um die substanzlose Oberflächigkeit des Wanddekors und des Kamins des bürgerlichen Repräsentationsraums bei Sotheby’s in Wien zu markieren. So wie die abstrakte Grenzlinie im 18. und 19. Jahrhundert in Europa das statische Konzept der „natürlichen Grenze“ aufbrach und Raum für eine Neuordnung Europas gab, die erstmals weitgehend ungehinderte Mobilität ermöglichte, zerbrechen die gespannten Bänder aufgesetzte Rauminszenierungen und zeigen neue Perspektiven und Mobilitätsachsen.

Vorgegebene Formen kritisch zu hinterfragen, kennzeichnet die grafischen Arbeiten von Anna-Maria Bogner. Auch sie stellen die Seh- und Ordnungsgewohnheiten infrage. Es sind meist die archetypischen Formen Rechteck, Kreis und Dreieck, die zerteilt, dezentriert, in einem exakten Winkel verschoben und neu zusammengesetzt werden. Linien und Flächen interagieren und bilden unerwartete Überschneidungen, die schwarze Kolorierung von Teilflächen steht im Spannungsverhältnis zu dünnen Bleistiftlinien, ein Spiel von Schwere und Leichtigkeit entsteht. Bei den dreidimensionalen Objekten erzeugen Licht und Schatten gemeinsam mit dem Objekt einen neuen Raum: Die Geometrie beginnt zu tanzen und zeigt die Sinnlichkeit der Abstraktion.

Anna-Maria Bogners Arbeiten stellen Raumgrenzen infrage und nehmen gleichzeitig die Figur der Grenze ernst. Sie zeigen, dass Raum veränderlich ist und dass es keine massiven, sondern nur wenige punktgenaue Interventionen braucht, um anscheinend Unveränderliches neu zu begreifen. Diese Interventionen verändern die Wahrnehmung durch ihre Abstraktheit. Dünne Bänder, klug angebracht, fordern auf, eingeübte Blickwinkel zu wechseln, zeigen aber auch, dass ohne sie keine neuen Blickwinkel möglich wären. Damit fordern sie zum Wichtigsten auf, was mit Grenzen geschehen soll: Sie zu hinterfragen und zugleich ernst zu nehmen und sie zu überschreiten, wo und wenn es nötig ist.

 

 

 

1 Bünz, Enno: Grenzen in der Geschichte. Einführende Überlegungen, in: Auge, Oliver (Hg.): Jahrbuch für Regionalgeschichte, Bd. 40, Stuttgart 2022, S. 19–29, S. 25 f.

2 Burkhardt, Johannes: Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für historische Forschung Vol. 24. No. 4., 1997, S. 509–574.

3 Vgl. i. d. F. Baramova, Maria: Border Theories in Early Modern Europe, in: Institute of European History (IEG) (publ.): European History Online, Mainz 2010, URL: http://ieg-ego.eu/en/threads/crossroads/border-regions/maria-baramova-border-theories-in-early-modern-europe (Zugriff: 11. Februar 2019).

4 Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände, Altenburg, 1792, in: URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10556464?page=,1 (Zugriff: 17. September 2021), zit. n. Baramova: Border (wie Anm. 3).

5 Komlosy, Andrea: Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitverlauf, Wien 2018.

6 Oltmer, Jochen: Die Grenzen der EU. Europäische Integration, „Schengen“ und die Kontrolle der Migration, Wiesbaden 2021.

7 Perzyna, Maggie: Why we build border walls, 2022, in: URL: https://www.torontomu.ca/cerc-migration/borders-and-belonging/ (Zugriff: 20. Juni 2023).

8 Mau, Steffen: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2022.

9 de Genova, Nicholas: The border spectacle of migrant ‘victimisation’, 2015, in: OpenDemocracy, URL: https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/border-spectacle-of-migrant-victimisation/ (Zugriff: 15. April 2022).

 

 

 

BERNHARD PERCHINIG | Anna-Maria Bogners Rauminterventionen als Migrationsmetaphern | Katalogbeitrag: ERGO. Anna-Maria Bogner / Studioheft 45 | Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck | SIMB Verlag | 2023 | Text ©Bernhard Perchinig, Politikwissenschaftler und Soziologe, Wien, Austria

 

Seite/ Page: 68 – 85